Warum Überkonsum kein Geldproblem ist, sondern ein Werteproblem

Es beginnt leise. Mit einem Klick auf „In den Warenkorb“. Mit dem Gedanken, dass dieses eine Kleidungsstück, dieses eine Möbelstück oder dieses eine technische Gerät das Gefühl in uns stillen wird, das wir nicht in Worte fassen können. Wir glauben, das Richtige gefunden zu haben – etwas, das uns Freude, Schönheit oder Bedeutung schenkt. Und für einen kurzen Moment fühlt es sich tatsächlich so an. Doch irgendwann blicken wir uns um, sehen all die Dinge, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben und spüren, dass der Raum voll, aber das Herz leer ist.

Ich hab dazu ein tolles Essay von Sherry Ning gelesen: „You’re overspending because you lack values“ (auf Englisch). Sie beschreibt diesen Moment der Ernüchterung. Sie erkennt, dass sie nicht zu viel gekauft hat, weil sie zu wenig Geld oder Disziplin hatte, sondern weil sie keine klaren Werte hatte. Übermäßiger Konsum, sagt sie, ist kein finanzielles Problem, sondern ein spirituelles. Wir kaufen nicht, weil wir brauchen. Wir kaufen, weil wir suchen.

Ein kleiner Rausch, der uns durchströmt, wenn die Bestätigungsmail eintrifft. Mit der Illusion, dass dieses eine neue Stück unser Leben auf magische Weise verbessern wird. Wir glauben, wir hätten uns gerade ein Stück Zufriedenheit gekauft. Doch oft genug merken wir erst viel später: Wir haben uns stattdessen nur ein paar Minuten Ablenkung gegönnt.

Mit jedem Paket, das ankommt, scheint für einen Moment alles gut. Aber irgendwann, meist in einem stillen Moment, fällt der Blick durch den Raum und alles, was wir sehen, sind Dinge. Dinge, die wir einst wollten, aber längst vergessen haben. Dinge, die Staub sammeln, Platz wegnehmen und uns mehr binden, als wir ahnen. Dinge, die still davon erzählen, dass wir uns selbst ein Stück weit verloren haben.

Der wahre Grund für Überkonsum

Viele von uns glauben, unser Konsumverhalten ließe sich mit besserem Budgetmanagement oder mehr Achtsamkeit beim Einkaufen in den Griff bekommen. Doch das trifft nur die Oberfläche. Die Wahrheit ist unbequemer: Wir kaufen zu viel, weil wir nicht wissen, was uns wirklich wichtig ist. Wer seine Werte nicht kennt, greift nach allem, was glänzt. Und in einer Welt, in der alles glänzt, ist es leicht, die Orientierung zu verlieren.

Die moderne Gesellschaft lebt in einer Dauerbeschallung aus Werbung, Social Media, Vergleichen und Trends. Jeden Tag werden uns neue Wünsche eingepflanzt, so perfekt verpackt, dass wir kaum merken, dass sie nicht unsere eigenen sind. Wir wollen schöner, erfolgreicher, begehrenswerter wirken, weil wir gelernt haben, dass Besitz ein Ausdruck von Identität ist.

Die Autorin Sherry Ning formuliert in ihrem Essay eine unbequeme, aber tief wahre Erkenntnis:

„Übermäßiger Konsum ist kein Geldproblem. Er ist ein spirituelles Problem.“

Der Mensch, der nicht weiß, was ihm wirklich wichtig ist, greift nach allem, was glänzt. Er sucht Sinn, wo nur Oberfläche ist. Und weil wir in einer Welt leben, in der uns pausenlos erzählt wird, was wir brauchen sollen, fällt es uns schwer, diesen Mechanismus zu durchschauen. Werbung, Trends, Social Media, Plakate,… Alles ruft uns zu: „Dir fehlt noch etwas!“ Und je öfter wir das hören, desto mehr glauben wir es.

Das ist die eigentliche Tragödie unserer Konsumgesellschaft. Sie nährt sich von Orientierungslosigkeit. Sie lebt davon, dass Menschen sich leer fühlen. Und anstatt diese Leere zu verstehen, stopfen wir sie mit Dingen voll.

Der Moment der Erkenntnis

Sherry Ning beschreibt, wie sie eines Tages ihr Zimmer betrachtet. Nicht als Raum, sondern als Spiegel ihrer inneren Verfassung. Sie sieht Schubladen voller Trends, Regale voller Fehlkäufe, Kisten voller Dinge, die sie einst „haben musste“ und längst vergessen hat. Jedes dieser Objekte steht für eine Entscheidung, die aus einem falschen Impuls getroffen wurde: Aus Neid, aus Unsicherheit, aus dem Wunsch dazuzugehören.

Sie schreibt: „Ich stand vor dem materiellen Abfall meines Lebens.“
Ein Satz, der trifft, weil er so ehrlich ist.

Wer einmal Umgezogen ist, kann das vielleicht nachvollziehen. Bei meinem Umzug hab ich auch gedacht, ich könnte die Kisten erstmal in den Keller stellen. Was ich brauche, hole ich dann einfach hoch in die Wohnung. Naja, bis auf wenige Ausnahmen stehen die Dinge dort noch. Mittlerweile seit Jahren.

Zeit ist Geld

Jeder Besitz ist gespeicherte Lebensenergie. Zeit, die wir gearbeitet, Geld, das wir verdient und Aufmerksamkeit, die wir aufgewendet haben. Und wenn dieser Besitz bedeutungslos ist, bedeutet das im Umkehrschluss: Wir haben einen Teil unserer Lebensenergie für etwas vergeudet, das uns nicht erfüllt.

Ich würde den Satz daher umdrehen und genau das Gegenteil behaupten:

Geld ist Zeit.

Mit Geld kann ich Zeit kaufen. Keine Lebenszeit, aber die Selbstbestimmung darüber, wie ich meine Zeit nutze. Hab ich kein Geld, „muss“ ich dafür arbeiten um meinen Lebensstandard zu finanzieren. Habe ich (genug bzw. viel) Geld, muss ich das nicht. Das meine ich mit gekaufter Zeit. Ich kann diese Zeit für mich verwenden. Ob ich sie für Arbeit nutzen möchte oder fürs Ausschlafen, Reisen, Wandern gehen, whatever.

Gier, Maßlosigkeit und die Lektion aus „Spirited Away“

Ich fand an dem Text besonders spannend, dass die Autorin einen der Lieblingsfilme meiner Jugend interpretiert. Als ich den damals angeschaut habe, habe ich die Botschaft dahinter gar nicht bemerkt. Beim drüber nachdenken für diesen Blogbeitrag leuchtet es absolut ein, wie die berühmten Schuppen, die von den Augen fallen.

Ning zieht eine Parallele zu Hayao Miyazakis Film „Chihiros Reise ins Zauberland“ / Englisch: „Spirited Away“. In einer Szene ganz am Anfang verwandeln sich Chihiros Eltern in Schweine, weil sie gierig von Speisen essen, die ihnen nicht gehören. Diese Szene ist ein Sinnbild für Maßlosigkeit, für den Moment, in dem das Haben-Wollen unsere Menschlichkeit überlagert. Der Titel „Spirited Away“ bedeutet wörtlich „von den Geistern entführt“. Das ist die perfekte Metapher für unseren Zustand im 21. Jahrhundert: Wir sind im Geiste entführt von Werbung, von Social Media, von der ständigen Jagd nach dem nächsten Must-Have. Wir verlieren unser wahres Selbst in einer Welt, die uns permanent erzählt, dass Glück käuflich ist.

Wie Chihiro stehen auch wir oft da und müssen zusehen, wie Menschen die wir lieben, sich in dieser Welt verlieren. Wir erkennen die Gier und die Unruhe und manchmal spüren wir sie in uns selbst.

Die Szene steht für die schmerzhafte Erfahrung, geliebte Menschen beim falschen Handeln zu beobachten und sie nicht stoppen zu können. Und zugleich ist sie ein Spiegel unserer Zeit: Auch wir sind von einer unsichtbaren Kraft „verzaubert“, die uns Dinge begehren lässt, die uns nicht (oder noch nicht) gehören.

Überkonsum ist ein Werteproblem, kein Geldproblem

Wenn wir ehrlich sind, wissen wir längst, dass wir nicht glücklicher werden, wenn wir mehr besitzen. Trotzdem kaufen wir weiter.

Sherry Ning schreibt: „Menschen glauben, Überkonsum sei ein Budgetproblem, dabei ist es ein Werteproblem.“

Solange wir nicht wissen, wofür wir stehen, ist jede Werbung ein Angriff auf unsere Identität. Wir lassen uns verführen, weil wir keinen inneren Kompass haben. Wir greifen zu, weil wir hoffen, dass Besitz Bedeutung verleiht. Doch er tut es nicht. Nur unsere Werte können das.

Werte sind der innere Anker, der uns davor schützt, in der Flut des Konsums unterzugehen. Für mich wie ein Kompass, der zeigt in welche Richtung mein Leben gehen soll. Wer seine Werte kennt, braucht keine Trendprodukte um sich vollständig zu fühlen. Man kann noch so viele Excel-Tabellen führen, Sparziele setzen oder Minimalismus-Vorsätze machen – solange man nicht weiß, wofür man wirklich lebt, wird man immer anfällig sein für Versuchung.

Das ist der Kern des Problems: Wir leben in einer Kultur, die das Haben über das Sein stellt. Wir verwechseln Besitz mit Identität. Und je mehr wir konsumieren, desto weiter entfernen wir uns von dem, was uns eigentlich menschlich macht.

„No-Face“ – Die Gestalt der Leere

Eine der eindrucksvollsten Figuren im Film ist „No-Face“, ein gesichtsloses Wesen, das Gold erschaffen kann und damit die Menschen im Badehaus verführt. Es ist das perfekte Symbol für das moderne Begehren. Es hat keine Gesichtszüge, es ist nicht satt zu kriegen und es ist letztlich doch leer im Inneren.

„No-Face“ steht für die Leere in uns, die glaubt, dass sie durch Konsum gefüllt werden kann. Ers spiegelt unsere Sehnsucht wider, jemand anderes zu sein, etwas Besonderes zu fühlen, Bedeutung zu haben. Doch je mehr er bekommt, desto zerstörerischer wird er. So lange bis Chihiro, als Hauptfigur mit klaren Werten, es entwaffnet.

Chihiro bleibt standhaft. Sie lässt sich nicht verführen von Gold oder Macht. Sie verkörpert die Werte Mut, Ehrlichkeit und Liebe. Das rettet sie.

Wie oft begegnen wir in uns selbst einem kleinen „No-Face“? Dieses unruhige Etwas, das sagt: „Kauf das, dann geht es dir besser. Dann bist du jemand. Dann bist du genug.“ Und wie oft merken wir danach: Nichts davon war wahr.

Die Täuschung des Begehrens

Begehren ist trügerisch. Es gaukelt uns Dringlichkeit vor, wo keine ist. Wir sehen etwas und denken: „Ich will das unbedingt.“ Doch sobald wir es besitzen, fällt der Schleier. Wir erkennen, dass es uns nicht erfüllt sondern nur beschäftigt hat.

Sherry Ning nennt das „Post-Purchase Clarity“, die Klarheit nach dem Kauf. Sie ist bitter, aber erhellend. Denn sie zeigt uns, dass wir in Wahrheit nicht Dinge jagen, sondern Gefühle. Wir kaufen Zugehörigkeit, Status, Bedeutung. Am Ende lässt sich das allerdings nicht verpacken und verschicken. Das Begehren selbst ist das Problem. Es entsteht aus Leere, und Leere lässt sich nicht mit Dingen füllen. Nur mit Bewusstsein.

Begierde ist trügerisch. Kaum ist das Objekt gekauft, verfliegt das Verlangen, und eine neue Sehnsucht nimmt seinen Platz ein.

Geld als spirituelle Kraft

Interessanterweise erinnert die Autorin daran, dass Geld ursprünglich etwas Heiliges war. Das Wort „Money“ stammt vom Tempel der römischen Göttin Juno Moneta – der Hüterin von Wahrheit und Erinnerung. In diesem Ursprung liegt eine tiefe Symbolik: Geld war nie bloß Tauschmittel, sondern Ausdruck gemeinsamer Überzeugungen.

Heute aber behandeln wir Geld wie eine Ersatzreligion. Wir messen ihm Macht zu, weil wir selbst vergessen haben, was uns wirklich wichtig ist. Geld folgt immer der Bedeutung, die wir ihm geben. Es zeigt was wir verehren und nicht was wir brauchen.

Luxusmarken wissen das genau. Sie verkaufen keine Produkte, sondern Emotionen: Exklusivität, Bewunderung, Selbstwert, Egopush. Ihr Erfolg basiert auf unserem Hunger nach Bedeutung. Doch wahre Bedeutung entsteht nie im Außen. Sie wächst aus unseren Werten.

Wir glauben an Marken, nicht an Werte. Wir verehren Logos, nicht Prinzipien. Doch der ursprüngliche Sinn von Geld war, Vertrauen zu symbolisieren. Geld existiert, weil wir gemeinsam daran glauben.

Die Frage ist also nicht, wie viel Geld wir haben, sondern welche Bedeutung wir ihm geben. Dient es unseren Werten oder ersetzt es sie?

Freiheit durch Werte

Wahre Freiheit beginnt in dem Moment, in dem du weißt, was du verehrst. Werte sind der Filter, durch den du die Welt siehst und entscheidest, was du in sie hineinlässt.

Wenn du deine Werte kennst, wirst du unbestechlich. Werbung verliert ihre Macht, Trends ihre Anziehung. Du erkennst sofort, ob etwas zu deinem Weg passt oder dich nur ablenken will. Entscheidungen werden leichter.

Diese Klarheit verändert alles: Ziele, Konsumentscheidungen, Beziehungen. Wenn du weißt was du willst, kannst du ganz entscheiden, ob der Preis dafür angemessen ist. Willst du Lebenszeit zur freien Verfügung oder willst du das Geld, was du verdienen kannst, wenn du diese Lebenszeit verkaufst? Ist der Kaufpreis fair? Willst du das neue Handy immer noch, auch wenn du dafür einen Monat deiner Lebenszeit verkaufen musst?

Besitz oder Selbstbesitz

Am Ende läuft alles auf eine einfache, aber tiefgreifende Wahrheit hinaus:
Überkonsum ist der Verlust der eigenen Identität.

„The things you own end up owning you.“ – Fight Club

Jeder Gegenstand, den du besitzt, fordert ein Stück deiner Aufmerksamkeit und deiner Energie. Besitz ist nie neutral. Er bindet oder befreit. Je nachdem, aus welchem Motiv er entstanden ist.

Wenn du Dinge kaufst, die deine Werte widerspiegeln, entsteht Harmonie. Wenn du Dinge kaufst, um eine innere Leere zu füllen, entsteht Abhängigkeit.

Überkonsum ist letztlich der Verlust der eigenen Identität. Wir glauben, wir besitzen Dinge – doch in Wahrheit besitzen sie uns. „The things you own end up owning you“, heißt es im Film „Fight Club“. Und dieser Satz trifft.

Jeder Kauf ist eine stille Abstimmung darüber, wer du sein willst. Kaufst du, um dich auszudrücken oder um dich zu betäuben? Kaufst du, um zu wachsen oder um zu fliehen? Bewusster Konsum bedeutet nicht Verzicht, sondern Wahlfreiheit. Ist dieses Produkt deine Lebenszeit wert, die du aufbringen musst um das nötige Geld dafür zu verdienen? Ja? Dann go for it! Nein? Dann spar es dir und nutze das Geld für etwas, dass dich nachhaltig deinen Zielen näher bringt.

Ein bewusstes Leben beginnt dort, wo du aufhörst, dich von Begierden lenken zu lassen. Wenn du deine Werte kennst, wird dein Besitz wieder zu dem, was er sein sollte: Ein Werkzeug. Nicht dein Gefängnis.

Bewusst leben statt besessen sein

Es geht nicht darum, gar nichts mehr zu wollen, sondern darum, zu verstehen, warum du etwas willst.

Wir alle sind irgendwann wie Chihiro. Wir sind verloren in einer Welt voller Versuchungen auf der Suche nach unserem wahren Namen. Der Weg zurück beginnt nicht mit einem Kaufstopp, sondern mit einer inneren Entscheidung.

Wenn du deine Werte kennst, kannst du dein Geld, deine Energie und deine Zeit dort investieren, wo sie wirklich Sinn stiften. Egal ob das neue Erfahrungen sind, zwischenmenschliche Beziehungen, Wachstum oder Freiheit.

Vielleicht ist der erste Schritt gar nicht, weniger zu kaufen, sondern mehr zu fühlen.
Zu fragen: „Wofür stehe ich wirklich?“
Denn sobald du das weißt, kann dich nichts und niemand mehr entführen.

Hast du dich mal ausgiebig mit deinen Werten beschäftigt? Schreib mir gerne einen Kommentar! Und falls du wissen möchtest, wie ich zu meinen Werten gekommen bin, darüber habe ich hier bereits berichtet.

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